Schaut ihr euch bei Filmen auch so gerne im „Making-of-Bereich“ die Szenen an, die gestrichen wurden? Ich finde das immer unheimlich spannend.
Bei einem Roman ist es im Grunde nicht viel anders.
Manche Szenen muss man aufgrund der Gesamtlänge des Buches streichen. Andere passen plötzlich nicht mehr ins Gesamtbild der Plotentwicklung, einer Figur oder man hatte während des Schreibens schlicht neue Ideen und sie deshalb aus dem Manuskript entfernt. Ich wünsche euch jedenfalls viel Spaß mit diesen aus meinen beiden Manuskripten gepurzelten Textschnipseln und hoffe, dass sie euch einen kleinen Einblick in meine Arbeitsweise geben und ein wenig mehr über die Figuren in den beiden Chosen-Bänden verraten.
Chosen - Die Bestimmte
„RINA!“
Jacobs Stimme schallt über das Gebrüll der Menge hinweg. Die Falken müssen tatsächlich einen Pyrokineten eingeschleust haben. Wie sonst hätte so schnell an so vielen Stellen gleichzeitig Feuer ausbrechen können? Meine Augen tränen und ich muss husten. Der dichte Rauch gräbt wie ein Messer in meinen Lungen. Jemand stößt gegen mich und ich falle auf die Knie. Instinktiv hebe ich die Hände über den Kopf und Panik steigt in mir auf. Sie könnten mich zu Tode trampeln. Alles bewegt sich um mich herum und die Aura der Angst, die von den Menschen in dem Saal ausgeht, überspült mich wie eine pechschwarze Welle. Steh auf! Du kannst hier nicht liegen bleiben! Verdammt, wo ist Jacob? Ich versuche aufzustehen, aber alles dreht sich plötzlich und mir wird übel. Das muss von dem Rauch kommen. Die Stimmen gerinnen zu einem wirren Rauschen. Verzweifelt beginne ich zu krabbeln. Blind und halb taub komme ich nur langsam vorwärts. Der Absatz eines Schuhs bohrt sich plötzlich in meine rechte Hand und ich schreie schmerzerfüllt auf.
„Katharina!“ Es klingt verzerrt und viel zu weit entfernt.
Ich weiß nicht, wer mich gerade gerufen hat, aber ich vermute, dass es Jacob ist.
„Jacob! Hilfe!“, brülle ich so laut ich kann.
Meine Stimme bricht, geht in ein Röcheln und Husten über, aber plötzlich greift jemand nach meinem Arm und zieht mich hoch, umklammert meine Hüften und reißt mich mit sich. Meine Füße gehorchen mir nicht, stolpern, aber der Arm um meinen Körper hält mich fest, lässt nicht los und dann wird es endlich heller, der Rauch löst sich auf und die dunkle Aura verblasst. Verschwommen erkenne ich die Garderobe im Foyer.
Das Geräusch von Feuerwehrsirenen wird von einer erleichterten Stimme unterbrochen: „Rina!“
Vor mir steht Jacob! Aber wer hat mich dann aus dem Inferno gezerrt?
„Es geht ihr gut, beruhige dich!“
Ich hebe den Kopf und blinzele dem Sprecher, der mich immer noch hält, entgegen. Helle graublaue Augen erwidern meinen Blick und ich erkenne, wer mir gerade das Leben gerettet hat: Farran.
Diese Szene musste aufgrund der Länge des Buches weichen.
Die Eingangstür fliegt mit einem lauten Krachen ins Schloss.
Ich sitze mit meinem Vater auf der Couch und blicke verwundert auf die Uhr. Es ist erst kurz nach fünf. Ist Aidan etwa von der Schule hierher geflogen? Er nimmt sich nicht die Zeit, seine Schuhe und die Jacke auszuziehen. Die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen tritt er heftig atmend vor uns.
„Schule schon aus?“, fragt Jacob gedehnt und ich presse die Lippen zusammen, um bei Aidans fassungslosem Gesichtsausdruck nicht loszulachen.
Aber er bekommt sich schnell wieder unter Kontrolle. Mit drei betont lässigen Schritten gleitet er zur Anbauwand und schnappt sich das Mobilteil des Telefons. Es blinkt rot. Als wir daheim angekommen sind, hat Dad es stummgeschaltet und verkündet, dass er sich heute nur für mich Zeit nehmen würde. Wir haben miteinander geredet und gelacht, zusammen gekocht und gegessen.
Aidan hebt die Augenbrauen, drückt den Wiedergabeknopf und schmeißt sich in den Sessel. Sieben Nachrichten werden abgespult. Alle sind von ihm. Mir fällt ein, dass auch mein Handy ein paarmal gebrummt hat.
„Ich werde den Schulleiter bitten, dir erneut die Schulregeln auszuhändigen“, sagt Dad und lächelt süffisant. „Das Benutzen von Handys ist auf dem Schulgelände verboten.“
Ich drücke meine Schultern in die Couch und warte auf Aidans Ausbruch. Aber er lehnt sich nur vor und schaut uns fragend an.
„Wie mein Tag lief, wisst ihr jetzt. Wäre es vermessen zu fragen, was ihr bei Farran heute so erlebt habt?“ Seine Stimme trieft vor Sarkasmus. Ich will ihn gerade aus seinen Qualen erlösen, als Jacob rasch seine Hand auf mein Knie legt.
„Farran hat beschlossen, dass keine Paratests mehr notwendig sind“, verkündet er ernst.
Aidan wird blass. „Was? Aber sie…“ Er springt auf. „Du wirst sie doch nicht etwa nach Deutschland zurückschicken? Hast du es ihm denn nicht erklärt?“
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie mein Vater die Achseln zuckt. Seine Miene ist vollkommen unleserlich.
Aidan holt tief Luft. „Hör mal, Jacob, wenn Farran Emmas besondere Begabungen nicht erkennt, kann es um seine eigenen Fähigkeiten nicht gut bestellt sein.“
Mir klappt der Mund auf. Das muss ein Traum sein.
„Das solltest du besser zurücknehmen“, erklärt mein Vater finster.
„NEIN!“ „Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dir mitzuteilen, dass du Konkurrenz bekommen hast. Du wirst künftig deinen Einzelunterricht mit Farran nicht mehr allein absolvieren.“
„Ich pfeife auf Farrans Unt…“ Er bricht ab, fährt zu mir herum und starrt mich an.
Und ich lächle zurück. Das Türkis in seinen Augen glitzert wie ein geschliffener Kristall, dann dreht er sich zu Dad um. „Du bist ein elender Mistkerl, Jacob!“
Ich liebe diese Szene. Aber die Entwicklung zwischen Jacob und Emma ging mir hier rückblickend zu schnell, deshalb habe ich sie umgeschrieben und die Annäherung nicht ganz so rasch geschildert. Auch Aidan gegenüber ist Emma zu diesem Zeitpunkt wegen Lynn noch sehr misstrauisch.
Chosen - Das Erwachen
Ian Sutherland ist so weiß, als hätte man ihn mit Theaterschminke abgepudert. Dennoch steht er aufrecht neben Farran vor dem neuen Panoramafenster seines Büros. „Getöntes Panzerglas“, hat Faye mir noch vor ein paar Tagen zugeflüstert, als sie es einsetzten. Muss ein Vermögen gekostet haben. Das Büro des Schulleiters hatte bei der Instandsetzung des Schulhauses höchste Priorität. Der Geruch von frischer Farbe und Teppichkleber verdrängt die Erinnerung an Feuer, Glassplitter und Blut. Ich rieche den Rauch trotzdem. Er ist der Faden auf dem Webrahmen meiner Angst. Und ich hoffe so sehr, dass ich das Muster, das er in diesem Zimmer spinnt, irgendwann zerreißen werde.
Meine Augen schweifen zu der dunklen Sitzgruppe. Faye kauert mit eingezogenen Schultern wie ein kleiner, zerzauster Vogel zwischen dem hünenhaften Brandon und Robert. Finn sitzt angespannt auf dem Sessel gegenüber und seine Hände umklammern die Armlehnen. Von der Großspurigkeit, die sie eben noch in der Mensa an den Tag gelegt haben, scheint nichts mehr übrig zu sein. Würde bei meinem Eintreten Fions Aura nicht wie ein düsterer, unscharfer Schatten um seine Silhouette wirbeln, wäre der Anblick wirklich komisch.
Der Schulleiter dreht sich ruckartig um und ich halte den Atem an. Bei unserer ersten Begegnung konnte ich ihm nicht in die Augen sehen und auch jetzt muss ich mich mit aller Kraft zwingen, seinem Blick standzuhalten. Die Luftvibrationen um seinen schmalen Körper werden bei meinem Anblick noch stärker und ich fühle seinen Zorn wie eine Druckwelle auf mich zurasen. Da ist er wieder, der Schauder, den seine Gegenwart neuerdings in mir auslöst, das Gefühl, in Panik fliehen zu wollen, aber ich unterdrücke es und konzentriere mich auf meinen Plan.
„Ian, es tut mir so leid!“, rufe ich, laufe mit raschen Schritten auf das Panoramafenster zu und umarme ihn.
Mit Mühe unterdrücke ich ein Lächeln bei dem Gedanken daran, dass ich, nass und vollkommen schlammverschmiert, gerade seine neue Schuluniform beschmutze. Wo er doch sonst so viel Wert darauf legt, wie aus dem Ei gepellt zu sein. Leider steht er da, wie angefroren. Ich stelle mich auf Zehenspitzen und hauche ihm ins Ohr: „Spiel mit!“ Farran muss ihm vermutlich mit dem Verweis von der Schule gedroht haben, denn seine Verzweiflung ist bestimmt grenzenlos, als er mich, die Verräterin, zögernd an sich drückt und mit heiserer Stimme sagt:
„Schon okay, Emma.“
Als ich mich von ihm löse und zu Farran umdrehe, wird mir mulmig. Seine Miene ist kalt und abweisend. Versteht er, warum ich dieses Theater aufführe? Ein Kribbeln auf meiner Haut, dann höre ich seine Stimme in meinem Kopf:
„Beeindruckend. Wie viele Fliegen versuchst du mit dieser Show auf einen Streich zu erschlagen, Schneiderin?“
Ich atme innerlich auf. Er hat es durchschaut. Natürlich. Er ist der Exerzitator.
„Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten, Mr. Farran“, murmele ich kleinlaut.
„Unannehmlichkeiten?“, donnert er und tritt einen Schritt näher. „Was haben Sie sich dabei gedacht, Miss MacAengus? Wollten Sie wieder mal einen kleinen Ausflug zu Montgomry machen?“
Ich schaue ihn aufrichtig entsetzt an. „Nein, Sir. Ich … Ian … ich habe Panik vor meinen Gefühlen bekommen und bin einfach losgelaufen.“ Das ist noch nicht einmal gelogen.
„Drücken Sie sich verständlich aus! Ihr Vater hat mir viel bedeutet, aber ich werde nicht zulassen, dass andere Schüler durch Ihre Unberechenbarkeit weiter gefährdet werden.“
Wenn er wüsste, welchen Schritt ich bereits in dieser Hinsicht unternommen habe, würde er Jamie wahrscheinlich auf der Stelle entlassen. Ein hilfesuchender Blick über meine Schulter begegnet dem immer noch verwirrten Gesicht Ians. Mittlerweile frage ich mich, wie er Mrs. O’Connells Psychotests bestanden hat.
„Wir haben Ian gleich gesagt, dass es noch zu früh ist, nicht wahr Rob?“, tönt plötzlich Brandons tiefe Stimme von der Couch.
Unsere Blicke kreuzen sich. Von seiner Seite hatte ich gar keine Hilfe erwartet. Brandons Mundwinkel zucken leicht.
„Ja, Mann. Aidan ist doch erst seit vier Wochen verschwunden“, pflichtet Robert bei und starrt Ian auffordernd an.
„Oh!“, krächzt Ian und räuspert sich. „Das eben in der Mensa geschah nur, weil … weil ich Angst hatte, dass Emma es sich anders überlegt und wieder Aidan nachläuft, wenn er zurückkommt, Sir.“
„Tatsächlich?“, fragt Farran gedehnt. „Ich dachte, Sie hätten Miss MacAengus mit einem Messer bedroht?“ Er schaut stirnrunzelnd zu Faye hinüber.
Sie wird knallrot im Gesicht und stottert etwas von dominantem Machogehabe, um mich zu beeindrucken.
„Was fällt Ihnen ein, Mr. Sutherland!“ Farrans leise drohende Stimme jagt selbst mir einen kalten Schauer über den Rücken, aber Ian zuckt so heftig zusammen, als hätte er einen Stromschlag bekommen. „Sie befinden sich in meiner Schule, nicht in einem Pub!“ Minutenlang fixiert der Exerzitator seinen Schüler.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Ians Hände zu zittern beginnen.
„Raus jetzt! Alle! Und sollte einer von Ihnen noch einmal auf die Idee kommen, mit Messern oder anderen Waffen auf dem Schulgelände zu jonglieren, werde ich ihm eine Nachholstunde in Benehmen bei Macmillan verordnen.“
Faye und die Jungen schießen von der Sitzgruppe hoch und stürzen zur Tür. Ian folgt ihnen leicht schwankend. Als ich mich anschließen will, packt mich Farran am Arm.
„Sie sind noch nicht entlassen, Miss MacAengus. Wir müssen uns noch einmal ausführlich über mein Verbot, das Schulgelände zu verlassen, unterhalten.“ Mich trifft ein letzter mitfühlender Blick von Faye, dann fällt die Tür hinter ihnen zu.
„Du solltest mich künftig vorab in deine Pläne einweihen“, sagt Farran und lässt mich los. Seine Stimme hat den scharfen Tonfall verloren. In den hellen, graublauen Augen liegt ein stolzes Funkeln. Verlegen knete ich meine Hände.
„Das war gänzlich ungeplant.“ Er lacht, deutet auf die Sitzgruppe und wir setzen uns nebeneinander.
„Dafür umso effektiver. Du hast ihnen gezeigt, dass du als Rabe zu ihnen hältst, obwohl sie dich bedrohen. Deine Freundin konnte sich rehabilitieren und ich habe ihnen bewiesen, dass ich dich nicht bevorzuge.“
Bei dieser Szene habe ich hinterher beim nochmaligen Überarbeiten überlegt, ob Faye wirklich ihre Mitschüler bei Farran verpetzen würde. Das passt so gar nicht zu ihrem Charakter. Vielmehr würde sie mit Emma erst einmal versuchen, die Angelegenheit selbst in den Griff zu bekommen. Schließlich entspricht das auch dem Rabengedanken zusammenzuhalten. Außerdem kam mir Emma nach der dramatischen Flucht zum Fluss und der Angst, die sie ausgestanden hat, zu belustigt vor. Es ist eine witzige Szene. Aber sie passt nicht in den Kontext, deshalb habe ich mich entschlossen, sie umzuarbeiten.
Die folgenden Szenen dagegen fielen aufgrund der Buchlänge der Schere zum Opfer:
Im Erdgeschoss wird es brenzlig. Von weitem hören wir die Schritte der patrouillierenden Wachleute. Wir verstecken uns in einer Nische und warten darauf, dass sie vorbeigehen. Aber das tun sie nicht. Sie bleiben nur wenige Meter entfernt von uns stehen. Einer von ihnen nimmt eine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche und hält sie dem anderen hin. An Silvester habe ich sie das erste Mal gesehen. Jamie nennt sie die
„Terminator“. Farrans neue Spezialeinheit.
Verantwortlich für seinen persönlichen Schutz und die Nachtwache. Größer als Brandon, muskulös, mit kantigen Gesichtern. Sie sind alle kahlgeschoren und sehen wie Klone von antiken Kriegern aus. Die Vorstellung, in sie zu tauchen, erfüllt mich irgendwie mit Grauen.
„Die Knirpse sind so brav, dass man glatt einschlafen könnte“, verkündet der links stehende Hüne und zündet seine Zigarette an.
Der andere lacht heiser. „Du hast dir doch immer einen lockeren Job gewünscht.“
Der Qualm ihrer Zigaretten zieht in unsere Richtung und sticht unangenehm in meine Nase.
„Farran zahlt gut und pünktlich. Was willst du mehr?“
„Ein bisschen Nervenkitzel. Muss ja nicht gleich so abgehen wie an Silvester. Würde schon genügen, wenn ich ein paar Jungen eine Abreibung verpassen könnte, weil sie sich nachts zu den Mädchen schleichen.“
Mir stellen sich die Nackenhaare auf und ich presse mich dichter an die Wand.
„Vergiss es! Das sind alles feine Pinkel hier. Die haben nur die Schule im Kopf.“
Ein komisches Geräusch ertönt neben mir und als ich den Kopf drehe, sehe ich, wie Ian krampfhaft die Hand auf Nase und Mund presst. Sein Körper zuckt und in seinen Augen lese ich Panik. Oh verdammt!
„Haben die keine Hormone?“, lacht der linke Wachmann und ich hoffe, dass er das noch eine Weile tut, denn Ians mühsam unterdrücktes Husten wird immer lauter. „Als ich sechzehn war, hab ich…“
„Ruhe! Was war das?“ Die Männer sehen sich um.
Ian gelingt es vor Schreck, bis auf ein leises Würgen still zu bleiben. Brandon rempelt mich an und hält seine Hände mit ausgestreckten Fingern über Kreuz vor mich. Die Flügel des Raben. Erst letzte Woche hat Macmillan es in SPSE als Geheimzeichen für unsere Gaben vorgestellt. Ist das sein Ernst? Wenn ich meine Gabe gegen diese Muskelpakete einsetze, muss mich Farran einfach von der Schule verweisen. Ich schüttele energisch den Kopf. Schritte nähern sich unserem Versteck und Brandons dunkle Augen durchbohren mich, während seine Kiefermuskeln angespannt zucken. Ich reiße den Kopf herum und fixiere den Wachmann. Die Angst vor dem Entdecktwerden bringt mein Herz zum Rasen.
„Wenn du angegriffen wirst, wird vor allem eines vorherrschen: Angst. Sieh sie als Waffe, die du für den Aufbau deiner Telekinese nutzen kannst.“
Farrans Worte sind der Wetzstein, der meine Konzentration schleift. Nur noch drei Schritte, dann muss der Wachmann uns sehen.
Nicht denken!
Eins.
Tu es!
Zwei.
Das Zischen in seinem Rücken lässt den Mann herumfahren, als er gerade den Fuß in unsere Richtung hebt. Aber ich schaue nicht ihn an. Ich konzentriere mich auf die winzige Schraube an dem Heizkörper gegenüber, spüre, wie mit jeder weiteren Drehung mehr Luft entweicht, bis sich schließlich das Wasser seinen Weg bahnt und in weitem Bogen über Wand und Fußboden spritzt. Mit Mama habe ich in einer Altbauwohnung gelebt. Wir mussten öfter die Luft am Heizkörper ablassen, weil die Heizung pfeifende und gluckernde Geräusche von sich gab.
„Shit! Ruf den Hausmeister, ich hol einen Eimer aus der Abstellkammer. Hier steht gleich alles unter Wasser.“
Ihre Stiefel hallen auf dem Boden, als sie sich entfernen.
„Jetzt!“, befiehlt Brandon und hetzt los.
„Ich höre seinen Atem, drehe mich mit der Taschenlampe um mich selbst. Nichts. Nur Bäume, Sträucher, Nebel und das Geräusch eines unterdrückten Kicherns. Er genießt das allzu sehr.
Ich presse die Lippen aufeinander. Wut ist eines der Gefühle, das ich am effektivsten für meine Telekinese zu nutzen gelernt habe. Hektisch sehe ich mich um und fixiere dann den laubbedeckten Waldboden. Nasse, schrumpelige Blätter, schlammig und halb vermodert. Genau richtig! Ein beträchtlicher Haufen von ihnen schießt in die Höhe und zieht wie ein Wirbelwind in immer weiter werdenden Kreisen um mich, während ich in seiner Mitte so geschützt bin, wie im Auge eines Orkans. Einige Blätter prallen rechts von mir in der Luft gegen einen unsichtbaren Widerstand.
„Hör auf! Das war doch nur ein harmloser Spaß!“
Das Hindernis formt sich sekundenschnell zu einem blonden Jungen, der mit verärgertem Gesichtsausdruck das Laub von seinem dunkelblauen Parka pflückt.
Herrje, jetzt hab ich ihn aber getroffen! Ich lasse die restlichen Blätter ihm zu Füßen auf den Boden segeln.
Das Licht von Jacobs Taschenlampe fliegt über bunte Kissen mit dem aufgestickten Plan des Central Parks, türkise Krawatten, diverse Schneekugeln mit Blumen und Vögeln bis hin zu den für Souvenirshops geradezu unverzichtbaren Kaffeebechern. Dem vermutlich einzigen Mitbringsel, das hinterher tatsächlich benutzt wird und nicht bereits Wochen nach der Heimkehr ein einsames Dasein auf dem Dachboden, in Kellern oder auf dem Flohmarkt fristen muss. Sofern es nicht als Geschenk lächelnd in Empfang genommen und umgehend im Restmüll bestattet wird. Kopfschüttelnd schleicht Jacob durch den Raum. Mit dem Geld, das Touristen weltweit jährlich für dererlei Tand ausgeben, könnte man wahrscheinlich die Hungersnot in Afrika beseitigen.
„Was um Himmels willen sind Maras?“, fragt Namara.
Jugendbanden aus Mittelamerika, die meist illegal in die USA gereist sind“, erklärt Grey und stellt sich neben den Jungen, als wolle sie ihn verteidigen.
Jacob verkneift sich nur mühsam ein Schmunzeln. Ihr „Schützling“ überragt sie um gut zwei Köpfe und sieht neben ihr so beschützenswert aus, wie ein Alpha-Löwe neben einem Buschhäschen.
„Sie kontrollieren oft ganze Straßenzüge. Leben vom Drogenhandel, Erpressung, Raubüberfällen. So eine Art iberoamerikanische Mafia, nur eben brutaler.“
Sie seufzt und schiebt ihre Brille am Steg höher auf die Nase.
„Kaum einer ihrer Mitglieder erreicht das dreißigste Lebensjahr. Francesco haben sie schon mit zwölf zu sich geholt, weil seine Eltern bei einem Unfall starben und sein großer Bruder in einer Mara war.“
Und jetzt ist er ebenfalls tot“, wirft Jacob trocken ein.
Francesco atmet scharf ein und macht einen Schritt auf ihn zu.
„Freut dich das etwa, du…“
„Nicht!“ Amy berührt seinen Arm. „Erzähl es ihm.“
Aber Francesco funkelt Jacob nur an.
Endlich stößt er hervor: „Ich war erst seit einem Jahr dabei. Mein Bruder hielt mich aus den wirklich schlimmen Dingen raus. Auch an diesem Abend. Ich wollte Mateo begleiten, aber er sagte: ‚Zu gefährlich, Chico. Das ist ein Job für echte Männer.‘ Stinksauer war ich auf ihn, hab ihn einen blöden Wichser genannt und noch Schlimmeres.“ Seine Kiefermuskeln mahlen bei der Erinnerung aufeinander. „Alle vier wurden zwei Stunden später von den Salvatruchas erschossen. Mateo war damals erst sechzehn.“
„Wann bist du zu Miss Grey gekommen?“, fragt Namara.
„Vor zwei Jahren. Nach Mateos Tod war ich noch zweieinhalb Jahre bei der Gang.“
Was diese Zeit für ihn bedeutet haben muss, steht ihm so offensichtlich ins Gesicht geschrieben, dass Jacobs Wut auf den Jungen schlagartig verraucht.
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