Von Rena Fischer auf Donnerstag, 27. April 2017
Kategorie: Gedanken

Schreibnacht-Gedanken: erlebte Rede

Jedem von uns ist die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Rede geläufig. Schon in der Grundschule lernen wir, wie man
„Musst du jetzt schon gehen?“
in
Sie fragte sich, ob er jetzt schon gehen müsse.
umwandelt.
Soweit so gut. Wirklich faszinierend finde ich allerdings das Stilmittel der „erlebten Rede“, bei der man im Extremfall durch das Einfügen eines einzigen Adverbiales oder Adjektivs als Erzähler in seine Figur schlüpft.


In oben genannten Beispiel würde der Satz lauten:
Musste er jetzt schon gehen?

Als Leser spürt man instinktiv, dass der Autor nicht mehr allwissend, sondern aus der Figur heraus spricht, Erzählerstimme und Figurenstimme verschmelzen gewissermaßen miteinander und die erlebte Rede wird nahtlos in die Erzählung verwoben. Das „jetzt schon“ im Beispiel drückt das Bedauern der Figur über den nahenden Abschied aus, ihre Gedanken, ohne sie konkret als solche zu formulieren.

Was unterscheidet dann die erlebte Rede vom inneren Monolog einer Figur?
In erster Linie die Verwendung der dritten Person Singular. In dem Beispiel würde ein innerer Monolog lauten:
Ich war traurig, weil er schon gehen musste.

Oft drückt die erlebte Rede eine ironische Sichtweise aus, wie man sie beispielsweise häufig bei Jane Austen findet.
So schreibt sie in „Stolz und Vorurteil“ über Sir William Lucas, der zum Ritter geschlagen worden war und sich seitdem nicht mehr für ein Leben in einer Kleinstadt begeistern konnte:
„Die Ehrung war ihm ein wenig zu Kopfe gestiegen; er fasste eine plötzliche Abneigung gegen das Geschäft und gegen sein Haus in dem kleinen Marktflecken, gab beides auf und bezog mit seiner Familie etwas außerhalb Merytons ein Landhaus, das von da an Lucas Lodge hieß. Hier konnte er zu seinem ständigen Vergnügen über seine eigene Bedeutsamkeit Betrachtungen anstellen …“
Man kann sich lebhaft vorstellen, wie der eitle Sir William Lucas vor dem Landhaus steht und stolz sagt: „Fortan soll dieses Haus Lucas Lodge heißen.“

Ein Beispiel für meine eingangs erwähnte Behauptung, es genüge oft nur ein Adjektiv oder Adverbiale, um die erlebte Rede auszudrücken, wäre:

Während er ihrem Klavierspiel lauschte, liefen ihm lächerliche Tränen über die Wangen.

Hätte man das Wort „lächerlich“ weggelassen, wäre dieser Satz eine reine Feststellung dessen, was ein externer Beobachter in diesem Moment sieht.
So aber schlüpft man in die Sichtweise des Mannes. Er schämt sich, dass das Klavierspiel ihn so zu Tränen rührt, deshalb sind sie „lächerlich“.

Im Extremfall können die Grenzen zwischen Autorenstimme und Figurenstimme bei der erlebten Rede vollends verschwinden, wie bei Tschechow:
„Das Städtchen war klein, schlimmer als ein Dorf, und es lebten darin fast nur alte Leute, von denen so selten welche starben, dass es einen beinahe ärgerte.“
Die Beschreibung des Dorfes in „Rothschilds Geige“ noch bevor er die Hauptperson, einen Sargtischler einführt, nimmt dessen Einstellung in der erlebten Rede zum Tod vorneweg: Der Tod ist sein Geschäft und da so wenige in dem Dorf sterben, geht es ihm finanziell schlecht.

Die erlebte Rede bietet eine sehr eindringliche, oft ironische oder gar zynische Herangehensweise an eine Figur, um deren Einstellung näher zu charakterisieren. Man wird wesentlich intensiver in das Geschehen hineingezogen, als wenn man - um bei Tschechow zu bleiben - einfach plump die Erzählung beginnen würde mit den Worten: In dem kleinen Dorf X lebte ein Sargtischler, dem es missfiel, dass so wenige Menschen starben. 

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